AKTUELLES aus dem ARBEITSRECHT
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 30.11.2021 – Az. 9 AZR 225/21: GRUNDSATZURTEIL: Urlaubskürzung bei Kurzarbeit rechtens
Der Fall: Die Klägerin ist bei der Beklagten drei Tage wöchentlich als Verkaufshilfe mit Backtätigkeiten beschäftigt. Bei einer Sechstageswoche hätte ihr nach dem Arbeitsvertrag ein jährlicher Erholungsurlaub von 28 Werktagen zugestanden. Dies entsprach bei einer Dreitagewoche einem Urlaubsanspruch von 14 Arbeitstagen. Aufgrund Arbeitsausfalls durch die Corona-Pandemie führte die Beklagte Kurzarbeit ein. Dazu trafen die Parteien Kurzarbeitsvereinbarungen, auf deren Grundlage die Klägerin u.a. in den Monaten April, Mai und Oktober 2020 vollständig von der Arbeitspflicht befreit war und in den Monaten November und Dezember 2020 insgesamt nur an fünf Tagen arbeitete. Aus Anlass der kurzarbeitsbedingten Arbeitsausfälle nahm die Beklagte eine Neuberechnung des Urlaubs vor. Sie bezifferte den Jahresurlaub der Klägerin für das Jahr 2020 auf 11,5 Arbeitstage. Dagegen hat sich die Klägerin mit der vorliegenden Klage gewandt. Sie hat den Standpunkt eingenommen, kurzarbeitsbedingt ausgefallene Arbeitstage müssten urlaubsrechtlich wie Arbeitstage gewertet werden. Die Beklagte sei daher nicht berechtigt gewesen, den Urlaub zu kürzen. Für das Jahr 2020 stünden ihr weitere 2,5 Urlaubstage zu.
Die Entscheidung:
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte beim Neunten Senat des Arbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf weitere 2,5 Arbeitstage Erholungsurlaub für das Kalenderjahr 2020. Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beläuft sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeit auf sechs Tage in der Woche auf 24 Werktage. Ist die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers nach dem Arbeitsvertrag auf weniger oder mehr als sechs Arbeitstage in der Kalenderwoche verteilt, ist die Anzahl der Urlaubstage grundsätzlich unter Berücksichtigung des für das Urlaubsjahr maßgeblichen Arbeitsrhythmus zu berechnen, um für alle Arbeitnehmer eine gleichwertige Urlaubsdauer zu gewährleisten (24 Werktage x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage). Dies gilt entsprechend für den vertraglichen Mehrurlaub, wenn die Arbeitsvertragsparteien – wie im vorliegenden Fall – für die Berechnung des Urlaubsanspruchs keine von § 3 Abs. 1 BUrlG abweichende Vereinbarung getroffen haben. Bei der vertraglichen Dreitagewoche der Klägerin errechnete sich zunächst ein Jahresurlaub von 14 Arbeitstagen.
Der kurzarbeitsbedingte Ausfall ganzer Arbeitstage rechtfertigte eine unterjährige Neuberechnung des Urlaubsanspruchs. Aufgrund einzelvertraglich vereinbarter Kurzarbeit ausgefallene Arbeitstage sind weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht Zeiten mit Arbeitspflicht gleichzustellen. Der Urlaubsanspruch der Klägerin aus dem Kalenderjahr 2020 übersteigt deshalb nicht die von der Beklagten berechneten 11,5 Arbeitstage. Allein bei Zugrundelegung der drei Monate, in denen die Arbeit vollständig ausgefallen ist, hätte die Klägerin lediglich einen Urlaubsanspruch von 10,5 Arbeitstagen (28 Werktage x 117 Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage).
Erläuterung:
Arbeitnehmer, die coronabedingt in Kurzarbeit waren und dadurch einen tageweisen Arbeitsausfall hatten, müssen mit der anteiligen Kürzung ihres Jahresurlaubs rechnen. Das hat das BAG in seinem Grundsatzurteil entschieden. Der Richterspruch könnte in den kommenden Monaten Auswirkungen auf Zehntausende Arbeitnehmer in Deutschland haben. Denn angesichts der Wucht der vierten Corona-Welle hat das Bundesarbeitsministerium gerade den erleichterten Zugang zu Kurzarbeit bis zum 31.03.2022 verlängert.
Das Urteil gilt bei Kurzarbeit Null mit längeren Zeiten ohne Arbeitspflicht, verkündete das höchste deutsche Arbeitsgericht in Erfurt. Kurzarbeit Null bedeutet, dass die Arbeit für Beschäftigte vorübergehend komplett ausgesetzt wird. Nach dem aktuell verkündeten Urteil besteht nun also für Zeiträume ohne Arbeitspflicht auch kein anteiliger Urlaubsanspruch. Bislang gab es für diese Situation keine eindeutige Regelung.
02.12.2021 Rechtsanwältin Huber
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Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil v. 13.10.2021 – Az. 5 AZR 211/21: Betriebsrisiko und Lockdown. Muss der Arbeitgeber seinen Betrieb aufgrund eines staatlich verfügten allgemeinen „Lockdowns“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorübergehend schließen, trägt er nicht das Risiko des Arbeitsausfalls und ist nicht verpflichtet, den Beschäftigten Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu zahlen.
Der Fall: Der Beklagte betreibt einen Handel mit Nähmaschinen und Zubehör und unterhält in B. eine Filiale. Dort ist die Klägerin seit Oktober 2019 als geringfügig Beschäftigte gegen eine monatliche Vergütung von EUR 432 im Verkauf tätig. Im April 2020 war das Ladengeschäft aufgrund der „Allgemeinverfügung über das Verbot von Veranstaltungen, Zusammenkünften und der Öffnung bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Coronavirus“ der Stadt B. vom 23.3.2020 geschlossen. Deshalb konnte die Klägerin nicht arbeiten und erhielt auch keine Vergütung. Mit ihrer Klage hat sie die Zahlung ihres Entgelts für den Monat April 2020 unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs begehrt. Sie meinte, die Schließung des Betriebs aufgrund behördlicher Anordnung sei ein Fall des von der Beklagten als Arbeitgeberin zu tragenden Betriebsrisikos. Dagegen hat die Beklagte Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, die von der Stadt B. zur Pandemiebekämpfung angeordneten Maßnahmen beträfen das allgemeine Lebensrisiko, das nicht beherrschbar und von allen gleichermaßen zu tragen sei.
Die Entscheidung:
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die vom LAG zugelassene Revision der Beklagten hatte Erfolg. Die Klägerin hat für den Monat April 2020, in dem ihre Arbeitsleistung und deren Annahme durch die Beklagte aufgrund der behördlich angeordneten Betriebsschließung unmöglich war, keinen Anspruch auf Entgeltzahlung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs.
Erläuterung:
Der Arbeitgeber trägt nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn – wie hier – zum Schutz der Bevölkerung vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen infolge von SARS-CoV-2-Infektionen durch behördliche Anordnung in einem Bundesland die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert und nahezu flächendeckend alle nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einrichtungen geschlossen werden. In einem solchen Fall realisiert sich nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung ist vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage. Es ist Sache des Staates, ggf. für einen adäquaten Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile – wie es zum Teil mit dem erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld erfolgt ist – zu sorgen. Aus dem Fehlen nachgelagerter Ansprüche lässt sich jedoch keine arbeitsrechtliche Zahlungspflicht des Arbeitgebers herleiten.
11.11.2021 Rechtsanwältin Huber
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Bundesarbeitsgericht (BAG), Beschluss v. 28.07.2020 – Az. 1 ABR 6/19: Wenn der Arbeitgeber die Auskunftspflicht nach dem Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) an sich zieht, hat der Betriebsrat kein berechtigtes Interesse an den Entgeltlisten.
Der Fall:
Die Zentralverwaltung der Arbeitgeberin ist ein Betrieb mit mehr als 4000 Beschäftigten. Dort ist ein 27-köpfiger Betriebsrat gewählt; dieser hat einen Betriebsausschuss gebildet. Nach dem Inkrafttreten des EntgTranspG hat die Arbeitgeberin von der dort vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Verpflichtung zur Erfüllung individueller Auskunftsverlangen von Beschäftigten generell zu übernehmen. Sie unterrichtete den Betriebsrat rglm. über konkrete Auskunftsverlangen und deren Beantwortung. In diesem Zusammenhang gewährte sie Einblick in die Listen über Bruttogehälter, welche nach Geschlecht aufgeschlüsselt die Entgeltbestandteile einschließlich übertariflicher Zulagen und individuell ausgehandelter Zahlungen enthalten. Diese Listen können vom Betriebsrat eingesehen werden.
Der Betriebsrat hat in dem von ihm eingeleiteten Verfahren die Übergabe dieser Entgeltlisten an den Betriebsausschuss mit der Begründung geltend gemacht, dass § 13 I 1 EntgTranspG ihm die Aufgabe zuweise, die Durchsetzung der Entgeltgleichheit im Betrieb zu fördern. Das Auswertungsrecht der Bruttoentgeltlisten umfasse hierbei auch die Herausgabe der Listen in bearbeitungsfähigen Dateiformaten.
Die Entscheidung:
Der 1. Senat erteilte dem Herausgabeverlangen des Betriebsrats eine Abfuhr. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet, so die BAG-Richter.
Erläuterung:
Nach § 10 I 1, § 12 I EntgTranspG haben Beschäftigte in Betrieben mit in der Regel mehr als 200 Beschäftigten bei demselben Arbeitgeber zur Überprüfung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots im Sinne des EntgTranspG einen individuellen Auskunftsanspruch nach Maßgabe der §§ 11 – 16 EntgTranspG.
Nach § 14 I 1 und § 15 II EntgTranspG wenden sich Beschäftigte mit Auskunftsverlangen an den Betriebsrat, der für die Erfüllung der Auskunftspflicht zuständig ist. Der Betriebsrat kann verlangen, dass der Arbeitgeber die Auskunftsverpflichtung übernimmt. Der Arbeitgeber kann die Erfüllung der Auskunftspflicht aber auch generell oder in bestimmten Fällen übernehmen.
Die Arbeitgeberin hatte im vorliegenden Fall zuvor nach § 14 II EntgTranspG die (sonst dem Betriebsrat obliegende) Pflicht zur Auskunftserteilung durch eine entsprechende Anzeige gegenüber dem Betriebsrat an sich gezogen. Der 1. Senat lehnte einen Anspruch des Betriebsrats auf Herausgabe der Entgeltlisten – in welcher Form auch immer – grundsätzlich ab. Wenn der Arbeitgeber die Auskunftspflicht an sich zieht, hat der Betriebsrat kein berechtigtes Interesse an den Entgeltlisten. Dies folgt aus einer an Systematik und Zweck des § 13 II 1 EntgTranspG orientierten Auslegung.
19.10.2020 Rechtsanwältin Huber
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Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil v. 13.05.2020 – Az. 4 AZR 489/19: BAG grenzt tarifliche Regelungsmacht ein.
Der Fall:
Eine Arbeitnehmerin – die Klägerin – , Mitglied der IG Metall und seit 1999 beim Arbeitgeber beschäftigt, verlangt von diesem auf der Grundlage vorteilhafterer, tarifvertraglicher Bestimmungen die Zahlung der Differenz zu ihrem Gehalt. Im Mai 2015 schloss der vormals nicht tarifgebundene Arbeitgeber einen Manteltarifvertrag und einen Entgeltrahmentarifvertrag mit der IG Metall ab. Beide Tarifverträge enthielten eine Klausel, nach der „tarifvertragliche Ansprüche aus diesem Tarifvertag voraussetzen, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird“. Damit muss diese Einigung Eingang in den Arbeitsvertrag finden, um wirksam zu werden.
Der Arbeitgeber übersandte der Arbeitnehmerin im März 2016 einen neuen Arbeitsvertrag, der eine sog. „dynamische Bezugnahmeklausel“ enthielt: Danach sollte sich das Arbeitsverhältnis nach dem jeweils für den Betrieb geltenden Tarifwerk in seiner jeweils gültigen Fassung richten. Die Klägerin strich einige Klauseln des Arbeitsvertrages durch, bevor sie ihn unterzeichnete. Dazu gehörte auch die dynamische Bezugnahmeklausel. Dennoch verlangte die Klägerin später die Zahlung von Differenzentgelt, also die Differenz zwischen dem nach ihrem Arbeitsvertrag vereinbarten Gehalt und dem höheren auf der Grundlage der Bestimmungen des Mantel- und Entgeltrahmentarifvertrags.
Die Entscheidung:
Mit ihrer Klage auf Zahlung von Differenzentgelt auf der Grundlage der Bestimmungen des Mantel- und Entgeltrahmentarifvertrags hatte die Arbeitnehmerin Erfolg.
Erläuterung:
In der Sache hatte das BAG zu entscheiden, ob die Parteien eines Tarifvertrages – also Gewerkschaften und Unternehmerverbände – dessen Geltung im Arbeitsverhältnis davon abhängig machen können, dass die Parteien des Arbeitsvertrags – also Arbeitnehmer und Arbeitgeber – die Einführung des Tarifwerks durch eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag klarstellen.
Der 4. Senat hat entschieden, dass allein die beiderseitige Tarifgebundenheit gemäß § 4 Abs. 1 TVG ausreiche, um Ansprüche aus den Tarifverträgen zu vermitteln. Das bedeutet, dass Regelungen aus einem Tarifvertrag bereits dann anwendbar sind, wenn der Mitarbeiter Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ist und der Arbeitgeber entweder Mitglied im tarifschließenden Unternehmerverband oder (im Fall des Firmentarifvertrags) selbst Partei des Tarifvertrages ist. Nach Ansicht der BAG-Richter ist es demgegenüber unzulässig, wenn die Parteien eines Tarifvertrages – wie im streitgegenständlichen Fall – die Ansprüche aus den Tarifverträgen von individualrechtlichen Umsetzungsmaßnahmen abhängig machen.
Auswirkungen:
Arbeitgeber dürfen die Einführung eines neuen Tarifwerks nicht mehr vom Neuabschluss von Arbeitsverträgen abhängig machen.
20.05.2020 Rechtsanwältin Huber
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Bundesarbeitsgericht(BAG), Beschluss v. 22.01.2020 – Az. 7 ABR 18/18: BAG konkretisiert, ab wann die Schwerbehindertenvertretung einzubinden ist.
Der Fall:
Die Arbeitgeberin, ein Jobcenter, beschäftigte eine Arbeitnehmerin, die als behinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 anerkannt war. Am 04.02.2015 stellte diese Arbeitnehmerin einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen bei der Bundesagentur für Arbeit und informierte den Leiter des Jobcenters hierüber. Das Jobcenter setzte die Arbeitnehmerin im November 2015 für die Dauer von sechs Monaten in ein anderes Team um, ohne zuvor die Schwerbehindertenvertretung unterrichtet und angehört zu haben. Mit Bescheid vom 21.04.2016 stellte die Bundesagentur für Arbeit die Arbeitnehmerin rückwirkend zum 04.02.2015 einem schwerbehinderten Menschen gleich. Die Schwerbehindertenvertretung hat geltend gemacht, dass das Jobcenter sie vorsorglich hätte unterrichten und anhören müssen.
Die Entscheidung:
Das BAG hat die Rechtsbeschwerde der Schwerbehindertenvertretung zurückgewiesen und im Ergebnis die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg bestätigt, das den Antrag der Schwerbehindertenvertretung abgewiesen hatte.
Erläuterung:
Nach § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die scherbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Diese Regelung gilt gemäß § 151 Abs. 1 SGB IX für schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen.
Die Beteiligungspflicht besteht aber nicht, wenn die Umsetzung einen behinderten Arbeitnehmer betrifft, der erst einen Antrag auf Gleichstellung gestellt hat, über den noch nicht entschieden ist. Die Gleichstellung erfolgt erst durch die konstitutiv wirkende Feststellung der Bundesagentur für Arbeit. Erst ab diesem Zeitpunkt besteht das Beteiligungsrecht der Schwerbehindertenvertretung bei der Umsetzung. Zwar wirkt die Gleichstellung nach § 151 Abs. 2 S. 2 SGB IX auf den Tag der Antragstellung zurück; dies begründet jedoch nicht die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Schwerbehindertenvertretung vor der Entscheidung über den Gleichstellungsantrag vorsorglich über eine Umsetzung zu unterrichten und zu dieser anzuhören. Diese Auffassung ist auch mit den Vorgaben des europäischen Rechts sowie der UN-Behindertenkonvention vereinbar.
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Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 23.01.2020 – Az. 8 AZR 484/18: Öffentliche Arbeitgeber, die schwerbehinderte Bewerber nicht zum Vorstellungsgespräch einladen, riskieren, eine Entschädigung nach dem AGG zahlen zu müssen.
Das BAG konkretisiert mit dieser Entscheidung die Voraussetzungen für den Entschädigungsanspruch im Fall eines Bewerbers für den Gerichtsvollzieherdienst.
Der Fall:
Der Kläger hat sich im August 2015 mit einer E-Mail auf eine für den OLG-Bezirk Köln ausgeschriebene Stelle als Quereinsteiger für den Gerichtsvollzieherdienst beworben. Die Bewerbung war mit dem deutlichen Hinweis auf seinen Grad der Behinderung von 30 und seine Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen versehen. Der Kläger wurde, obwohl er fachlich für die Stelle nicht offensichtlich ungeeignet war, nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Mit seiner Klage hat der Kläger vom beklagten Land eine Entschädigung in Höhe von 7.434 € verlangt. Das beklagte Land hat demgegenüber geltend gemacht, die Bewerbung des Klägers sei aufgrund eines schnell überlaufenden Outlook-Postfaches und wegen ungenauer Absprachen unter den befassten Mitarbeitern nicht in den Geschäftsgang gelangt. Schon aus diesem Grund sei der Kläger nicht wegen der Behinderung benachteiligt worden.
Die Entscheidung:
Das Arbeitsgericht hatte die Klage abgewiesen. Das LAG hat ihr teilweise stattgegeben und dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von 3.717 € zugesprochen (LAG Köln, Urteil v. 23.08.2018 – Az. 6 Sa 147/18). Die Revision des beklagten Landes blieb im Ergebnis erfolglos.
Das BAG hat entschieden, dass der Kläger Anspruch auf eine Entschädigung aus § 15 Abs. 2 AGG in der zugesprochenen Höhe hat. Das beklagte Land hätte den Kläger, dessen Bewerbung ihm zugegangen war, nach § 82 S. 2 SGB IX a.F. zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen. Die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch begründete die Vermutung, dass der Kläger wegen seiner Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen benachteiligt wurde. Das beklagte Land hat diese Vermutung nicht widerlegt. Insoweit konnte das beklagte Land sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Bewerbung sei nicht in den Geschäftsgang gelangt. Dass ihm trotz Zugangs der Bewerbung ausnahmsweise eine tatsächliche Kenntnisnahme nicht möglich war, hat das beklagte Land nicht vorgetragen. Auch die Höhe der Entschädigung war im Ergebnis nicht zu beanstanden, so die BAG-Richter.
Konsequenzen:
Geht dem öffentlichen Arbeitgeber die Bewerbung einer fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten oder dieser gleichgestellten Person zu, muss er diese nach § 82 S. 2 SGB IX a.F. zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Unterlässt er dies, ist er dem/der erfolglosen Bewerber/in allerdings nicht bereits aus diesem Grund zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet. Das Unterlassen der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch ist lediglich ein Indiz iSv § 22 AGG, das die Vermutung begründet, dass der/die Bewerber/in wegen seiner/ihrer Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung nicht eingestellt wurde. Diese Vermutung kann der Arbeitgeber nach § 22 AGG widerlegen.
18.02.2020 Rechtsanwältin Huber __________________________________________________________________________
Wichtige Änderung der Rechtsprechung zum Urlaubsrecht !
Kein Verfall mehr von nicht beantragtem Urlaub ohne vorherige Aufforderung zur Urlaubsnahme durch Arbeitgeber !
Urteil BAG vom 19.02.2019 – 9 AZR 423/16
Der Fall
Der Arbeitnehmer verlangte nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Abgeltung von nicht genommenen Urlaub. Einen Antrag auf Gewährung dieses Urlaubs hatte er während des Arbeitsverhältnisses nicht gestellt.
Die Entscheidung
Entgegen bisheriger Rechtsprechung verfällt nicht beantragter Urlaub nicht mehr automatisch zum Jahresende. Der nicht erfüllte Anspruch auf Jahresurlaub erlischt nur dann am Ende des Kalenderjahres, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Konsequenzen
Den Arbeitgeber trifft eine Mitwirkungspflicht bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Der Arbeitgeber muss auch ohne konkreten Urlaubsantrag von sich aus den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht nimmt.
Die erforderliche Unterrichtung muss
- eine Information über die Zahl der dem Arbeitnehmer zustehende Urlaubstage enthalten und
- die Aufforderung, den Urlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er noch im laufenden Urlaubsjahr genommen werden kann und
- einen unmissverständlichen Hinweis darauf enthalten, dass der Urlaub ersatzlos verfallen wird, wenn er nicht innerhalb des Bezugszeitraumes genommen wird.
Abstrakte Regelungen im Arbeitsvertrag oder die Ausgabe von Merkblättern genügen nicht. Die Unterrichtung muss sich vielmehr auf einen ganz konkreten Urlaubsanspruch beziehen. Sie muss für jedes Kalenderjahr neu erfolgen und die Zahl der Urlaubstage beziffern, die dem einzelnen Arbeitnehmer im fraglichen Bezugszeitraum konkret zustehen.
Ohne wirksame Unterrichtung wird der Urlaub in das Folgejahr fortgeschrieben. Eine Kumulierung von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren kann der Arbeit nur dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheit für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr wiederholt.
23.08.2019 Rechtsanwalt Fahr
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AKTUELLES aus dem MIETRECHT
Amtsgericht Singen, Urteil v. 27.05.2020 – Az. 11 C 48/19: Eine Kameraattrappe, die den äußeren Anschein von Funktionstüchtigkeit erweckt, vermittelt dem unbefangenen Betrachter in gleichem Maße den Eindruck, er werde überwacht, wie eine tatsächlich funktionsfähige Videokamera; die Attrappe muss daher beseitigt werden, so die Richter.
Der Fall:
Der Eigentümer und Vermieter einer Wohnanlage brachte im oberen Eck der Hauseingangstüre sowie am nördlichen Giebel auf den Hauseingang gerichtete Lampen an, die Videokameras ähnelten. Der Mieter dieser Wohnanlage hielt die Objekte für funktionsfähige Kameras und klagte auf Entfernung der Objekte; hiermit hatte er Erfolg.
Die Entscheidung:
Die Richter bejahten den Anspruch des Klägers auf Beseitigung der streitgegenständlichen Objekte gemäß §§ 1004 Abs. 1 analog, 823 Abs. 1 BGB auch für den Fall, dass es sich um Videokamera-Attrappen handelt. Vom Vorliegen jedenfalls kameraähnlicher Objekte war das Gericht überzeugt. Es kommt daher nicht darauf an, ob die Objekte darüber hinaus auch eine Lampenfunktion haben.
Ist wie vorliegend nicht erkennbar, ob tatsächlich eine bloße Attrappe oder – ggf. nach nicht äußerlich wahrnehmbarer technischer Veränderung – eine Kamera mit Aufzeichnungsfunktion vorhanden ist, reicht die Installation der Objekte in dem vom Kläger als Mieter genutzten Eingangsbereich wegen des andauernden Überwachungsdrucks für die Bejahung des Eingriffs in das aus Art. 2 Grundgesetz hergeleitete allgemeine Persönlichkeitsrecht aus. Dem Mieter ist nicht zumutbar, permanent die Gegebenheiten zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass es sich lediglich um eine Attrappe handelt (Landgericht Berlin, Beschluss v. 01.02.2018 – Az. 67 S 305/17). Ein derartiger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht wäre nach Auffassung der Richter allenfalls zur Abwehr überwiegender Beeinträchtigungen des durch Artikel 14 Grundgesetz geschützten Eigentums des Beklagten gerechtfertigt. Voraussetzung wäre die Besorgnis schwerwiegender und nachhaltiger Beschädigungen am Eigentum. Die vom Beklagten im streitgegenständlichen Fall geltend gemachten Sicherheitsbedenken reichen nach Auffassung des Gerichts nicht aus.
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